Hier also die Langversion
Mit Schiwago fing alles an (könnte man sagen)
Ich hatte das große Glück, dass bereits mit 18 Jahren eine erste Erzählung von mir erscheinen konnte, als ich noch ein Schüler war. Das war damals in einer Zeit voller Zweifel ein großer Mutmacher. Heute glaube ich noch immer an den Zauber von Geschichten – erfinde selbst welche und darf Klein & Groß dabei begleiten.
Wer viel Ausdauer hat, kann die Geschichte meiner Autorenwerdung hier nachlesen …
Für eine kompaktere Darstellung empfehle ich auch den Wikipedia-Artikel (wer es wirklich genau wissen möchte).
Das hätte ich nie gedacht ...
Doktor Schiwago. So nannten wir immer den Bösewicht, als wir, meine Freunde und ich, mit Holzschwertern bewaffnet zum Schicksalsberg oder durch den wilden Wald stürmten. Den Namen hatte ich im Bücherregal meiner Großmutter entdeckt, ohne zu wissen, worum es in dem Buch ging; ich habe es bis heute nicht gelesen (und sollte es vermutlich auch niemals tun, um den Zauber nicht zu gefährden). Doktor Schiwago konnte jeden Tag in einer anderen Gestalt auftreten, und auch wir änderten jeden Tag unsere Heldenfiguren, das Setting, den Spannungsbogen; wir zofften uns, wer der Anführer sein darf und wer Doktor Schiwago diesmal in die Schranken weisen würde. Denn auch wenn es immer ziemlich knapp war, sind wir mit einem Happy End davongekommen.
Wir erzählten uns keine Geschichten, wir spielten sie, wir lebten sie, denn für uns fühlte sich das alles in diesen Augenblicken echt an, und an manche dieser Augenblicke kann ich mich heute so gut erinnern, als wäre es gestern gewesen. Warum das so ist, warum Geschichten eine solche Kraft entfalten, warum unser Gehirn Geschichten liebt, das habe ich dann später als Schriftsteller und Literaturwissenschaftler versucht herauszufinden; und habe heute sogar die Möglichkeit, das Gefundene in Seminaren und Workshops weiterzugeben. Danke,Schiwago, das hätte ich nie gedacht.
Aber zurück zu meiner Kindheit: Irgendwann war es dann nicht mehr angesagt, sich mit Holzschwertern zu bewaffnen und durch Wälder zu rennen; ich musste mir etwas anderes suchen, um meine Freude an und meine Lust auf Geschichten auszuleben. Es dauerte, bis ich ein geduldiger Leser wurde und mich ganz auf die Gedankenwelten anderer einlassen konnte. Es kam jedoch der Zeitpunkt, an dem mir das nicht mehr reichte, und ich fing wieder an, selbst zu finden und zu erfinden. Fing an, das aufzuschreiben, so mühsam und seltsam das in meinem Alter war: Ich war mittlerweile ein ziemlich stiller Teenager geworden, jeanshemdig und wollwestig, mit Paul McCartney auf dem long and winding road der Uncoolness, und nur auf dem Fußballplatz wagte ich ein wenig mehr Lärm und Konfrontation.
Jedenfalls wurde eine längere Erzählung fertig, mit dem Nadeldrucker ins Papier gestanzt und an den Alkyon Verlag geschickt. Auf diesen Verlag war ich gestoßen, weil ein russischer Lyriker, Wjatscheslaw Kuprijanow, an unsere Schule gekommen war, Gedichte lesend und Verlagsprogramme verteilend. Rudolf Stirn, der Verleger, rief mich ein paar Wochen später an und wollte ein Buch aus der Geschichte machen. Ich war achtzehn, es war eine ziemlich beflügelnde Erfahrung. Mit dem ICE durfte ich zu meiner ersten Lesung nach Stuttgart fahren, ich las zusammen mit dem wundervollen Kollegen Imre Török, der meine monströse Nervosität erstaunlich gelassen ertrug. Ein Artikel in der Frankfurter Rundschau, 200 verkaufte Exemplare (ich dachte, ich sei damit fast schon auf der Bestsellerliste), und ich wusste, ich will und werde das weitermachen.
Und habe weitergemacht, vermutlich einen Großteil der Höhen und Tiefen durchlebend, die Du als Autor durchleben kannst. Ich weiß jetzt, wie sich ein Verriss in der FAZ anfühlt, wie man mit Absagen die Wand tapeziert, wie man in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann-Preis vor laufender Kamera von einem Juror gesagt bekommt, der eigene Text sei moralisch verwerflich (eine noch längere Geschichte …), aber es erreichten mich immer, meistens zum richtigen Zeitpunkt, eine Prise Anerkennung, eine Förderung, sogar ein Preis. Manche Tür öffnete sich, wo vorher keine war.
Nicht jedes Vorhaben ließ sich realisieren. So habe ich nach Alle Wasser laufen ins Meer (Klett-Cotta, 2009) lange an einem Roman gearbeitet, den niemand so recht haben wollte, und es dauerte also stolze zehn Jahre, bis 2019 mit Und ich war da ein weiterer Roman erscheinen konnte (davon wiederum fünf Jahre Arbeitszeit). Davor, dazwischen und danach aber Anderes und sehr viel Schönes: die Mörderballaden bei asphalt & anders (2013) mit dem unerwarteten Effekt, dass aus Verlegern Freunde werden. Mit dem Kinderbuch Titus und der verwunschene Wald (2016) entstand die Märchenakademie und damit die regelmäßige Arbeit mit Kindern bei Lesungen und Workshops; und ich hätte wirklich nie gedacht, dass ich einmal mit einem Schneewittchenrap auftreten werde.
Mit Nora Gomringer, mit der ich zu Studienzeiten kurzzeitig mal einen Verlag gegründet hatte, sammelte ich für die Anthologie #poesie (Voland & Quist, 2018) Gegenwartsgedichte, woraus auch ein Workshop-Format entstand, das ich bereits einige Male erproben durfte (siehe Workshops für Kinder und Jugendliche). Nicht zu vergessen die intensiven und verrückten Abende mit Nora auf der Talkshow-Bühne, seit nunmehr 20 Ausgaben moderieren wie im ETA Hoffmann Theater in Bamberg die Talk-Reihe Villa Wild. So hätte ich nie gedacht, dass ich einmal als Esel oder Engel verkleidet einen Abend moderieren werde. Und erst die großartigen Gäste! Aus manchen sind wiederum Freunde geworden, Antonia Hausmann etwa, Posaunen-Virtuosin und Komponistin, wir haben mittlerweile Musik-Lesungen zu Und ich war da und Tante Helene und das Buch der Kreise, zu ihrem Album Teleidoscope und ganz neu: zu einem sehr persönlichen Text über eine Fahrt ans Meer und das Ausräumen des Elternhauses entwickelt. Anfragen sind sehr willkommen!
Das Sachbuch StoryThinking (Vahlen 2028) brachte mich meinen Doktor-Schiwago-Erlebnissen wieder nahe und ich lotete aus, warum Geschichten der Resonanz-Faktor schlechthin sind, auch in Organisationen, in der Politik, im Sport. Mit diesem Konzept besuchte ich Stiftungen, Unternehmen oder Vereine und lernte dadurch neue Kontexte kennen. Das hätte ich nie gedacht. Die hier entwickelte Storyversum-Methode nutze ich noch heute, um mich selbst und andere Kreative in ihrem künstlerischen Selbstverständnis zu reflektieren und zu analysieren (siehe Workshops).
2022 dann erschien der Roman Tante Helene und das Buch der Kreise. Ich hatte Jahre zuvor die Berliner Künstlerin Irene Wedell interviewt, sie hatte mir ihre unglaubliche Lebensgeschichte anvertraut. Ich fühlte mich aber der Verantwortung, ihre Geschichte zu erzählen, anfangs noch nicht gewachsen. Wiederum einige Jahre später wagte ich aber den Versuch, verband Ihres mit Eigenem und wurde mit tollen Erlebnissen belohnt. So lernte ich gute Freunde der mittlerweile verstorbenen Irene kennen und wir konnten sogar zwei Ausstellungen in Berlin und Bamberg mit ihren Kunstwerken realisieren. Hätte ich nie gedacht.
Kreise öffnen, Kreise schließen sich. Und so stehe ich immer wieder vor neuen Anfängen, und das ist noch immer ein großartiges und gleichzeitig ein erschreckendes Gefühl. Der nächste Roman Elf ist eine gerade Zahl wird noch in diesem Jahr im November im List-Verlag bei Ullstein erscheinen. Es ist die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter, die ihrer an einem Osteosarkom erkrankten Tochter ein Märchen erzählt – für beide eine heilsame Erfahrung. Es war wundervoll, mich damit in die Tradition von Tausendundeine Nacht zu stellen, aber auch eine wahnsinnig intensive Reise mit berührenden Gesprächen und zum Beispiel Besuchen der Kinderonkologie des Universitätsklinikums Erlangen. Eine Reise auch in das Verdrängte, in dunkle Erfahrungen. Ich bin gespannt, was ich mit diesem Roman noch erleben werde. Ich habe auch noch einen Jugendroman geschrieben, der wiederum eine ganz unglaubliche Lebensgeschichte erzählt. Die Geschichte eines Mädchens, das gegen jede Wahrscheinlichkeit den zweiten Weltkrieg überlebt und nach dem Krieg als Tänzerin auf der Bühne steht – außerdem ist eine neue Kindergeschichte über den Außerirdischen Kriuwik fertiggeworden, aus der hoffentlich eines Tages ein Buch werden wird. Eine szenische Lesung ist daraus schon entstanden, und ich hätte nie gedacht, dass ich mit Vorschulkindern einmal einen Emotionen-Tanz einüben und dabei so viel Spaß haben werde.
Ein paar solcher DAS HÄTTE ICH NIE GEDACHT-Momente kann ich noch vertragen, denke ich. Mal sehen, was noch kommen wird …

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